Atomwaffen setzen Menschenrechte ausser Kraft

Urs Fitze / 22. Sep 2017

Red. Expertinnen und Ärzte aus aller Welt diskutierten vom 14. bis 17. September in Basel über «Menschenrechte und zukünftige Generationen im nuklearen Zeitalter». Da grosse Medien nicht darüber informiert haben, veröffentlichen wir diesen Beitrag des Journalisten Urs Fitze.

«Das nukleare Zeitalter hat kosmische Dimensionen. Niemals zuvor in der Geschichte hatte das, was wir in der Gegenwart tun, potenziell derart katastrophale Konsequenzen für die nachkommenden Generationen. Wir müssen uns mit einer neuen Verantwortlichkeit beschäftigen. Wir brauchen Gesetze zum Schutz unserer Nachkommen. Und wir brauchen eine Philosophie, die das ethische Fundament der Verantwortlichkeit auf die Zukunft ausdehnt.»

So zitierte Emilie Gaillard, Juristin mit Spezialgebiet Privatrecht an der Universität Caen-Normandie, den Verantwortungsethiker Hans Jonas, der angesichts der epochalen Dimensionen dieser Aufgabe und des vorherrschenden Glaubens an die technische Machbarkeit meinte: «Wir können es nur versuchen.»

Darum ging es am von der Schweizer Sektion der «Ärztinnen und Ärzte für soziale Verantwortung zur Verhinderung des Atomkrieges» veranstalteten dreitägigen Kongress in Basel unter dem Titel «Human Rights, Future Generation & Crimes in the Nuclear Age». Die fast hundert Teilnehmerinnen und Teilnehmer waren aus aller Welt gekommen.

Die Medien nahmen keine Notiz davon.

Was die generationenübergreifende Verantwortung schon heute bedeutet, illustrierte die russische Aktivistin Nadezda Kutepova, Gründerin des Hilfswerks

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Nadezda Kutepowa

 

Bild Urs Fitze

«Planet of Hope» mit dem Gerichtsfall eines vor sechs Jahren verstorbenen Mädchens.

Kutepova vertrat die Mutter des Mädchens 2013 vor Gericht. Die Frau hatte im Namen ihres verstorbenen Kindes auf eine staatliche Entschädigung geklagt. Dieses war 2005 schwerstbehindert auf die Welt gekommen. Seine Grossmutter war 1957, nach dem ersten Super-Gau der Geschichte, der Explosion eines Tanks mit radioaktiven Abfällen aus einer Plutonium-Produktionsanlage in Mayak, als Liquidatorin zum Einsatz gekommen.

Welche Strahlenschäden sie dabei erlitten hat, ist bis heute unbekannt. Die Katastrophe wurde jahrzehntelang geheim gehalten. Erst 1989 erfuhren die Einwohnerinnen und Einwohner der Region davon. In Mayak wurden nicht nur die ersten sowjetischen Atombomben gebaut, Mayak dient bis heute als Wiederaufbereitungsanlage für abgebrannte Brennstäbe. Ein 1993 vom russischen Parlament erlassenes Gesetz sah Entschädigungsleistungen vor, von der Übernahme der Gesundheitskosten bis zur Invaliden-Rente. Darauf berief sich Nadezda Kutepova vor Gericht. Es gab eine grosse medizinische Evidenz, dass die genetisch bedingte Behinderung des Mädchens die Folge von durch die Verstrahlung ausgelösten Mutationen im Körper ihrer Grossmutter waren. Doch der Richter sei gar nicht darauf eingegangen, sondern habe seine Ablehnung der Klage damit begründet, dass das Mädchen 1957, als es zur Katastrophe gekommen war, ja gar nicht auf der Welt war – noch nicht einmal dessen Mutter. Und für Ungeborene gebe es keinen rechtlichen Schutz.

Inzwischen hat die neue politische Realität einer gelenkten russischen Demokratie von Putins Gnaden aus Nadezda Kutepova eine Staatsfeindin gemacht. Sie wurde der Industriespionage angeklagt und entging dem Straflager nur durch die Flucht mit ihren Kindern ins Pariser Exil.

Wie schwierig es schon für die direkt Betroffenen einer atomaren Katastrophe ist, zu ihrem Recht zu kommen, zeigt auch das Verhalten der japanischen Regierung. Diese definierte nach dem Super-Gau von Fukushima die geltenden Grenzwerte für die Hintergrundstrahlung in den verstrahlten Gebieten kurzerhand neu und erhöhte sie um das Zwanzigfache auf 20 Millisievert pro Jahr. Damit bewegt sie sich im Rahmen dessen, was internationale Vereinbarungen in Katastrophenfällen zulassen.

Es ist – angesichts des Ausmasses der Katastrophe – der Weg des geringsten Übels. Denn die Flächen der zu evakuierenden Gebiete liessen sich damit auf immer noch immense 1'100 Quadratkilometer mit rund 56'000 Einwohnerinnen und Einwohner deutlich verkleinern. Inzwischen hat die japanische Regierung eine Rückkehr jener Evakuierten verordnet, die in Gebieten mit einer Strahlung bis 20 Millisievert leben, mit dem Argument, alle für das tägliche Leben relevanten Bereiche seien dekontaminiert. Aus der Not- soll eine Dauerlösung werden. Wer sich weigert, dem werden die Entschädigungsleistungen gestrichen.

Die Anwältin Natsuk Nakase führt in Tokio eine Sammelklage von 4'000 Betroffenen. Der Titel: Nariwai wo kaese, chili wo kaese. Gebt uns unsere Heimat und unsere Häuser zurück. Nakase verlangt eine Reduktion der Umgebungsstrahlung auf die Werte vor der Katastrophe und eine monatliche Entschädigung von umgerechnet 384 Euro, bis dies erreicht ist. Verlangt wird auch ein Politikwechsel: der Ausstieg aus der Atomenergie und eine Neuformulierung der Verantwortlichkeit bei atomaren Katastrophen.

Tatsächlich, so der Jurist Daniel Rietiker, wissenschaftlicher Mitarbeiter am Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte, kann vieles, was für den gesunden Menschenverstand sonnenklar sein mag, aus rechtlicher Sicht ganz anders aussehen, auch, wenn es um die elementarsten Menschenrechte wie das Recht auf Leben geht.

Atombomben würden sich in keinster Weise damit vereinbaren lassen. Rietiker erinnerte an die in die Hunderttausende gehenden Toten der beiden Atombombenabwürfe auf Hiroshima und Nagasaki, die allermeisten von ihnen so unschuldig wie ein ungeborenes Kind. Doch es gab damals und es gibt bis heute noch keine völkerrechtliche Vereinbarung, die solch kriegerisches Handeln ebenso verbietet wie den Einsatz chemischer und biologischer Waffen.

Im Juli haben 122 Mitglieder der UNO die Ächtung von Atomwaffen beschlossen. Das Abkommen tritt in Kraft, sobald es 50 Länder ratifiziert haben. Die Atommächte lehnten das Abkommen ab und werden sich der Ächtung nicht unterziehen.

Die Atommächte wollen am atomkriegerischen Ast nicht sägen, auf dem sie balancieren, angeblich um ein Gleichgewicht des Schreckens zu erhalten. Doch dieses Gleichgewicht sei sowieso eine Mär, meinte der britische Experte für nukleare Abrüstung, Paul Ingram. Denn angesichts der Tatsache, dass niemand zu einem ersten Schlag fähig sei, ohne die eigene Auslöschung zu riskieren, löse sich jede Bedrohung in Luft auf.

Verschwinden würden die Atomwaffen auf Dauer aber nur, wenn es zu pragmatischen Lösungen komme, in konstruktiven, allseitigen Schritten.

Auch ohne Ächtung der Atomwaffen gebe es durchaus Mittel und Wege, gegen deren Einsatz Menschenrechte einzufordern, etwa, indem «absolute Menschenrechte» angesprochen würden, zum Beispiel das Verbot der Herabsetzung der Menschenwürde, von unmenschlichen Handlungen oder Folter.

Und dann gebe es noch den indirekten Weg, etwa das Recht auf saubere Nahrung und sauberes Wasser, wie es in internationalen Verträgen formuliert sei.

Menschenrechte könnten durchaus einen Weg ebnen, die Staaten in die Pflicht zu nehmen. Strafrechtlich verantwortlich gemacht werden können diese damit aber nicht. Das kann auf der Bühne der Menschenrechte nur der internationale Strafgerichtshof gegenüber Einzelpersonen, und das auch nur bedingt, wie der österreichische Strafrechtsexperte Gerhard Kreuzer erklärte.

Denn ob der Abwurf einer Atombombe als Verbrechen gegen die Menschlichkeit gewertet werden könne, sei situationsabhängig. Letztlich müsse dieser als Kriegsverbrechen, Völkermord als Verbrechen gegen die Menschlichkeit oder als Aggressionskrieg geahndet werden können. Und auch dann gelte es, dem Angeklagten die bewusste Absicht nachzuweisen.

Sind die Menschen, die ihre Kinder und Kindeskinder lieben und alles tun für ihr Wohlergehen, wirklich bereit, im kosmischen Zeitalter zu leben und die Verantwortung zu tragen für ihr kollektives Tun, das nicht mehr sie alleine angeht, sondern, im Kern in noch viel grösserem Ausmass, die nachkommenden Gesellschaften über Hunderte von Generationen? Oder werden sie, wie bislang immer in der Geschichte der Menschheit, gefangen sein in ihrer eigenen Befindlichkeit?

Im Abschluss-Dokument der Konferenz findet sich der Vorschlag, junge Leute über die Zusammenhänge von Atomwaffen und Atomenergie, Menschenrechtsverletzungen und das Schicksal künftiger Generationen aufzuklären. Das Desinteresse der Jugend war auch an der Konferenz nicht zu übersehen. Die jungen Teilnehmerinnen und Teilnehmer kamen fast ausschliesslich aus Ländern, die von atomaren Katastrophen und Verbrechen stark betroffen sind.

Urs Fitze arbeitet im Pressebüro Seegrund in St. Gallen. Er ist Mitglied des Vereins für nachhaltigen Journalismus im Internet, der sich für einen qualitativ hochwertigen, unabhängigen Online-Journalismus einsetzt. Der Verein betreibt auch die Webseite «Mensch und Atom»